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„Schwarzer Augenblick“ – reite keine toten Pferde, nimm Abschied und fange neu an




Ich stand in Sichtweite der Schwarzspechthöhle, meinen Finger auf dem Auslöser meines Fotoapparates. Als ich eine Bewegung bemerkte, drückte ich auf den Auslöser. Es entstand die überraschendste Fotoserie meines Lebens: Aus der Höhle flog ein Ei. Sehr behutsam trug es das Männchen in seinem starken Schnabel davon, völlig geräuschlos und ohne Flügelschläge in der Luft schwebend. Ich prüfte die Kameraeinstellungen: eine sehr kurze Verschlusszeit, schwaches Licht am frühen Morgen. Doch Gott sei Dank waren die Bilder einigermaßen in Ordnung! Diese Szene bewegte mich tief, und bis heute denke ich mit Ehrfurcht an das, was ich miterleben durfte.


Ein Ei, das bebrütet wurde und die Hoffnung auf neues Leben in sich trug, wurde aus der Höhle getragen. Die anderen Eier waren anscheinend erfolgreich ausgebrütet – so dachte ich –, die Küken geschlüpft, doch bei diesem Ei hatten die Vögel das Warten aufgegeben. Das Wegtragen erfolgte mit überraschender Würde. Sonst schleuderten die Spechte den Dreck einfach vom Höhlenrand, aber hier trug das Männchen das Ei liebevoll davon.


Ich ging fast täglich vorbei und konnte immer wieder Fotos von den schönen Vögeln machen. Ich hörte ihre Gesänge, nahm ihre Flügelschläge wahr und drehte kurze Filme. Immer wieder schlüpfte ein Vogel in die Höhle hinein und ein anderer heraus. Ich durfte beobachten, wie sie Dreck rausschleuderten, Abfälle wegflogen, und ich hörte sie singen. Doch ich bekam keine Küken zu Gesicht und wurde langsam ungeduldig.


Meine Berechnung war einfach: Die Eier mussten Anfang April gelegt worden sein, also sollten die Küken Mitte April geschlüpft sein. Nach vier Wochen im Nest, also Mitte Mai, hätte die Aufzucht der Jungen längst beendet sein müssen. Doch bisher hatte ich keinen Blick auf die Küken erhaschen können. Immerhin änderte sich etwas: Die Fütterung erfolgte jetzt nicht mehr in der Tiefe der Höhle, sondern vom Rand aus, doch immer noch sah ich nur die erwachsenen Vögel. So eine Höhle ist gut 40 Zentimeter tief und ungefähr 25 Zentimeter breit – kein Wunder, muss sie doch Platz für bis zu sechs Küken bieten.


Endlich, am 23. Mai, sah ich einen Schnabel aus der Höhle ragen. It’s a girl! It’s a boy! Nach Wochen der Beobachtung sichtete ich endlich den ersten jungen Schwarzspecht, der zweite war ihm dicht auf den Fersen – viel später als erwartet. Jetzt wurde mir die Tragik der Szene, die ich am 13. April fotografiert hatte, bewusst: Anscheinend war der erste Brutversuch der Eltern gänzlich gescheitert. Kein einziges Küken war nach der langen Wartezeit geschlüpft.


Das ausgeflogene Ei, das ich gesehen hatte, war ein Zeichen für einen Neuanfang gewesen. Die erste Brut war missglückt, und die tapferen Vögel versuchten es erneut. Ich lernte so viel, nicht nur über die wunderschönen schwarzen Waldbewohner, sondern auch darüber, nicht aufzugeben. Auch in schwierigen Momenten im Leben die Verantwortung zu übernehmen und Zuversicht zu bewahren, aber auch zu erkennen, wann es Zeit ist, aufzuhören. Nicht aufgeben bedeutet nicht, die Tatsachen zu ignorieren.


Ich habe schon früh den angeblich alten Indianerspruch gelernt: “Reite kein totes Pferd.” So logisch und scheinbar überflüssig – doch ich habe es immer wieder getan. Ich hielt an Dingen fest, die nicht mehr zu retten waren. Sie schienen noch nicht verloren, so wie das Ei. Es gab noch Hoffnung. Aber das Leben hatte sich schon unbemerkt davongeschlichen. Es gab kein lautes Zerbrechen, die Schale blieb intakt. In meinem Fall so prosaisch wie die Zustimmung der Geldgeber für ein Großprojekt. Die Anzeichen waren früh da, ich hoffte jedoch, alle noch überzeugen zu können. Zu spät erkannte ich, dass mein “Pferd” tot war. Es hätte viel weniger gekostet, früher abzubrechen. Aber schließlich habe ich das Richtige getan – das Team zusammengeholt, eine Kerze angezündet und getrauert. Dann aufgestanden und neu angefangen.


Dadurch, dass man sich zu lange an etwas festklammert, verbaut man sich die echte Chance auf einen Neuanfang. Reite keine toten Pferde – akzeptiere deinen Misserfolg, nimm dir Zeit zum Trauern und starte dann neu. Es wird großartig.



 
 
 

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